Wie entsteht eine Lawinenvorhersage? Teil 2/3: Die Beurteilung der Gefahren
Zum Teil 1/3: Wie entsteht eine Lawinenvorhersage? Die Datenquellen
Konsistenz der Vorhersage
Als Nutzer:innen wollen wir darauf vertrauen, dass eine Lawinenprognose in Frankreich an einem vergleichbaren Tag dieselben Informationen enthält, wie eine Prognose in Österreich oder Deutschland. Die Beurteilung der Lawinengefahr soll über die Grenzen hinweg konsistent und einheitlich sein – Lawinengefahr groß oder ein Altschneeproblem muss in verschiedenen Ländern das Gleiche bedeuten.
Prognostiker:innen haben sich deshalb europaweit entschlossen, in der Beurteilung der Lawinengefahr einem einheitlichen Workflow zu folgen. Verantwortlich für die Konzipierung des seit 2022 bestehenden, aktuellen Workflows ist dabei die Arbeitsgruppe der European Avalanche Warning Services, kurz EAWS – ein Zusammenschluss europäischer Lawinenwarndienste.
Am Beginn des Arbeitsprozesses steht dabei immer dieselbe Frage:
Was ist das Problem für den morgigen Tag?
Haben wir es mit persistenten Schwachschichten und deshalb mit einem Altschneeproblem zu tun? Oder wird der Wind über Nacht zulegen, lockeren Schnee verfrachten und es entsteht ein Triebschneeproblem? Aus Informationen zu den Eigenschaften von Brett und Schwachschicht potentieller Lawinen leiten die Warner:innen die wichtigsten Lawinenprobleme des morgigen Tages ab.
Für jedes relevante Lawinenproblem schätzen sie die Lawinengefahr separat ein – sie durchlaufen also für jedes Problem einmal den gesamten Beurteilungs-Workflow. Für die jeweilige Warnregion wird schlussendlich die, sich aus allen Problemen ergebende, höchste Gefahrenstufe ausgegeben.
Wo ist das Problem?
Für jedes, am morgigen Tag relevante Lawinenproblem überlegt sich die diensthabend(e) Prognostiker:in nun, wo genau das Problem auftritt. In welchen Mikroregionen existiert das Problem? Und innerhalb dieser Regionen: Wo liegt der Kernbereich des Problems?
Welche Expositionen und Höhenbereiche sind verstärkt betroffen? Dabei kann die Abgrenzung von Höhe und Exposition je nach Lawinenproblem und aktueller Situation von vielen Informationen aus dem Gelände belegt und damit sehr fundiert – oder aber auch mit Unsicherheiten behaftet sein.
Es ist deshalb wichtig, sich nicht blind auf diese Informationen zu verlassen:
“Gerade bei einem Triebschneeproblem ist es häufig schwierig, Höhe und Exposition präzise abzugrenzen: lokale Effekte spielen beim Thema Wind eine sehr große Rolle”
Patrick Nairz
Als Nutzer:in der Lawinenvorhersage muss ich die Situation deshalb Vorort laufend neu beurteilen, die Prognose bildet dabei nur meine Grundlage.
Wie ausgeprägt ist das Problem?
Diese Saison beginnt der Tiroler Lawinenreport am 07. Dezember – Patrick Nairz hat am Tag zuvor Dienst. Er entscheidet sich dafür, ein Triebschneeproblem auszugeben und grenzt dessen Geltungsbereich ab: Gefahrenstellen liegen von Nordwest über Nord bis Südost, oberhalb von 2000 Metern.
Innerhalb des Geltungsbereichs überlegt er sich im nächsten Schritt, wie ausgeprägt das Problem dort vorhanden ist. Diese Frage entscheidet am Ende über die für das Triebschneeproblem gültige Gefahrenstufe – sie ist also durchaus essentiell.
Wie lässt sich die Frage beantworten? Die Ausprägung eines Lawinenproblems und damit die Gefahrenstufe hängt maßgeblich von drei Faktoren ab: der Schneedeckenstabilität, der Häufigkeit von Gefahrenstellen im Gelände und der Größe resultierender Lawinen. Um zu einer Antwort zu kommen, müssen Lawinenprognostiker:innen jeden dieser Faktoren beurteilen.
1. Schneedeckenstabilität: Wie leicht lassen sich Lawinen auslösen?
Als Erstes gilt es einzuschätzen, wie stabil die Schneedecke in Bezug auf das zu beurteilende Lawinenproblem ist. Die Schneedeckenstabilität ist eine lokale Eigenschaft der Schneedecke und gibt uns Auskunft darüber, wie leicht sich an der jeweiligen Stelle Lawinen auslösen lassen.
Dabei gibt es vier Stabilitäts-Klassen: sehr schlecht, schlecht, mittel und gut. Spontane Lawinen sind Zeichen einer sehr schlechten Schneedeckenstabilität – sie treten oft nach starken Schneefällen in Erscheinung. Eine schlechte Schneedeckenstabilität dagegen bedeutet, dass schon ein(e) einzelne(r) Skitourengeher:in Lawinen mit geringer Zusatzbelastung auslösen kann.
Das kann zum Beispiel im Fall einer oberflächennahen, reaktiven Schwachschicht in Kombination mit einem Triebschneepaket der Fall sein. Wenn Lawinen nur mit großer Zusatzbelastung ausgelöst werden können – so wie häufig bei tiefliegenden Schwachschichten aus dem Frühwinter – spricht man von mittelmäßiger Schneedeckenstabilität.
Neben der Unterteilung durch verschiedene Auslösearten (spontan, geringe/große Zusatzlast) entscheiden die Prognostiker:innen auch auf der Basis von Schneedeckentests sowie dem Auftreten von Rissen und Wumm-Geräuschen über die jeweilige Stabilitäts-Klasse.
2. Häufigkeit: Wie verbreitet sind die Gefahrenstellen mit gegebener Schneedeckenstabilität?
Patrick Nairz geht für den 07. Dezember davon aus, dass Triebschneepakete mit geringer Zusatzbelastung ausgelöst werden können – Schneedeckenstabilität schlecht. Um die regionale, vom Triebschneeproblem ausgehende Gefahr abschätzen zu können, muss er sich nun Folgendes überlegen: Wie häufig sind die Stellen innerhalb der Warnregion, an denen Lawinen mit geringer Zusatzbelastung ausgelöst werden können?
In der Theorie könnte man diese Größe in Prozent angeben – an wieviel Prozent der Hänge ist die Schneedeckenstabilität schlecht? In der Realität muss die Häufigkeitsverteilung jedoch oft aus einem vergleichsweise spärlichen Datensatz oder der Erfahrung der Prognostiker:innen abgeleitet werden.
Eine präzise Prozentangabe ist dann nicht möglich und die EAWS-Arbeitsgruppe hat sich stattdessen für eine vierteilige Skala entschieden: Prognostiker:innen wählen zwischen vielen, einigen, wenigen oder fast keinen Gefahrenstellen.
Patrick entscheidet, dass Triebschneepakte am morgigen Tag nur an wenigen Stellen im Gelände mit geringer Zusatzbelastung ausgelöst werden können. Die letzte Frage, die er sich für die Gefahrenbeurteilung des Triebschneeproblems nun unabhängig von den beiden vorigen Fragen stellen muss:
3. Größe: Wie groß sind die resultierenden Lawinen?
Lawinen werden weltweit in fünf verschiedene Größen-Klassen eingeteilt: klein (1), mittel (2), groß (3), sehr groß (4), extrem groß (5). Dabei ist die Verschüttungsgefahr bei einer kleinen Lawine ohne Geländefallen zwar noch eher gering, aber schon eine mittlere Lawine kann eine Person verschütten, verletzten oder töten: man spricht von einer klassischen Skifahrerlawine. Typischerweise läuft sie bis zum Hangfuß aus.
Eine Größe 3 Lawine (groß) kann ganze PKWs verschütten, kleine Gebäude zerstören und flache Geländeformen über eine Distanz von bis zu fünfzig Metern überwinden – als Skifahrer:in ist die Todesfallrate hoch.
Sehr große Lawinen (Größe 4) können längere flache Strecken überwinden und ganze Züge verschütten oder große Gebäude zerstören. Extrem große Lawinen verwüsten ganze Landschaften – sie sind die größten, bekannten Lawinen und treten nur sehr selten auf.
Vor allem anhand der Dicke des Bretts sowie der Flächigkeit der Verteilung der Schwachschicht entscheidet der diensthabende Lawinenprognostiker, wie groß die Größte zu erwartende Lawine für den morgigen Tag ist. Geringmächtige, lokale Triebschneepakete werden dabei zu deutlich kleineren Lawinen führen, als eine tiefliegende Schwachschicht im Altschnee.
Im Falle des Triebschneeproblems erwartet sich Patrick Nairz für morgen maximal Lawinen der Größe 2 – mittel. Damit ist die Gefahrenbeurteilung für das Triebschneeproblem abgeschlossen: Es besteht an den Expositionen Nordwest über Nord bis Südost oberhalb von 2000m, die Schneedeckenstabilität ist an wenigen Stellen schlecht und Lawinen können mittlere Größen erreichen.
Die Lawinenvorhersage für den ersten Berichttag. Seit letzter Saison werden die drei, für die Lawinengefahr maßgeblichen Parameter auch für jedes Lawinenproblem im täglichen Report angezeigt: Schneedeckenstabilität, Anzahl der Gefahrenstellen und die Größe resultierender Lawinen.
Aber was bedeutet das für die Gefahrenstufe? Und wie können wir all diese Informationen – ganz abgesehen von der Gefahrenstufe – in die tägliche Tourenplanung mit einbeziehen? Das erklären wir in Teil 3 der Serie zum Thema Lawinenvorhersage.
Zum Teil 1/3: Wie entsteht eine Lawinenvorhersage? Die Datenquellen