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Lawine
07. Jan. 2025 - 19 min Lesezeit

Lawinenzeit: Ein tödliches Phänomen

Den Begriff „Lawinenzeit“ prägte der langjährige Ausbildungsleiter der Österreichischen Berg- und Skiführer Klaus Hoi. Er meint damit, dass während bestimmter, kurzer Zeiträume eines Winters ein stark erhöhtes Lawinenrisiko besteht. Im letzten Winter starben zum Beispiel an drei Tagen acht Menschen bei Lawinenunfällen in Österreich. Wir haben ihn gebeten den Begriff näher zu beleuchten. Hier sein Versuch einer Erklärung und Anleitung zur praktischen Lawinenkundeausbildung.

Meine Erfahrungen mit Lawinenzeiten gehen sehr weit zurück und begannen in der lawinenkundlichen Ausbildung der Österreichischen Berg- und Skiführer. Es gelang mir 1978, die Winterausbildung durch Einführung eines Lawinenfachkurses entscheidend zu verbessern. Ziel war es, die lawinenkundliche Ausbildung von den bisherigen theoretisch geführten Unterrichten in eine praxisdominierte Ausbildung umzuformen.

Dass dies kein Leichtes ist, zeigte die Tatsache, dass selbst heute noch in den meisten Fachausbildungen die Theorie überbewertet wird. Auch wenn die Mittel modern sind – Internet, Videos und Power Point –, können sie praktisches Handwerk nicht übertreffen oder ersetzen. Für die ersten sieben Winter war St. Christoph am Arlberg der Kursstandort.

Die typischen kantigen Kristalle und Becherkristalle sind Folge der aufbauenden Umwandlung. Sie werden in der Endform auch als Schwimmschnee oder Tiefenreif bezeichnet. Diese Kristallform bindet sich schlecht und wirkt wie ein Kugellager.
Abb. 1 Die typischen kantigen Kristalle und Becherkristalle sind Folge der aufbauenden Umwandlung. Sie werden in der Endform auch als Schwimmschnee oder Tiefenreif bezeichnet. Diese Kristallform bindet sich schlecht und wirkt wie ein Kugellager.

Die Kursleitung und das Team legten die Rahmenbedingungen fest. Gearbeitet wurde in Kleingruppen von vier bis fünf Schülern mit einem erfahrenen Ausbilder. Jede Gruppe versuchte auf individuelle Weise, im Gelände und auf Touren die gestellten Aufgaben zu erarbeiten: Erkundung des Kursgebietes, Geomorphologie und Klima, Wettereinfluss und Verlauf, Schneedeckenentwicklung, Gefahrenstellen und Unfallkunde.

Die touristische Erschließung des Arlberggebietes und die gewaltige Expansion des Variantenfahrens lieferten sehr lehrreiche Beispiele im Verhalten der Skisportler. Die vergleichenden Schneedeckenuntersuchungen fanden fast täglich statt. Aus der eigenständigen Beobachtung lernten die Schüler, Wetter und Schneedeckenaufbau in Prognosen auszudrücken und zu dokumentieren.

Die Fortsetzung des praktischen Lernens fand in Form weiterer Studien (Hausaufgaben/Diplomarbeit) im heimatlichen Standortgebiet statt. Damit wurde ein lebenslanges Lernen und Beobachten der winterlichen Natur angeregt. Durch die gesammelten Werke der Diplomarbeiten bekamen wir einen umfassenden Überblick über das Unfallgeschehen in Österreich – vergleichbar mit dem heutigen Saisonbericht der Lawinenwarndienste Österreichs – mit vielleicht noch genaueren und detaillierteren Einzelberichten.

Fünf schreckliche Winter – aufbauende Umwandlung

Der Arlberg bot wegen der Übererschließung des freien alpinen Raumes für unsere Ausbildung bald zu wenig ungestörte Tourenmöglichkeiten. Aus diesem Grund wechselten wir 1985 ins Alpbachtal. 1985 war der zweite von fünf „schrecklichen“ Wintern, wie ich sie nach wie vor bezeichne! In den 80er-Jahren verliefen die Winter sehr kalt und nicht unbedingt schneereich. Im Alpbachtal herrschten bis zu minus 20 Grad und die gesamte Winterschneedecke wurde bereits Mitte Dezember 1984 im gesamten Ostalpenraum aufbauend umgewandelt.

Lawinenzeit
Symptomatisch für Lawinenzeit ist das plötzliche Ansteigen von Lawinenereignissen und Unfällen innerhalb eines begrenzten Zeitraumes und Gebietes.

Dem geschuldet war die Schneebrettgefahr auf Schwimmschnee (Abb. 1) und Reif die dominierende Gefahr und verlangte von Skialpinisten äußerste Aufmerksamkeit bei Gebiets- und Routenwahl. Im alten Gasthof Galtenberg konnten wir in den ungeheizten Zimmern an der Innenwand die Reifbildung studieren.

Die überdurchschnittlich hohe Zahl an Lawinentoten in diesen Jahren ist fast ausschließlich dem Tourensektor zuzuordnen. Auffallend für uns war bereits damals die Häufung der Unfälle an bestimmten Tagen: Für diese auffallenden Perioden verwendete ich den Begriff „Lawinenzeit“ (Tab. 1).

Vorstufe zur „Lawinenzeit“

Der Winterbeginn nach einem meist schönen Spätherbst mit wenig Schnee, ungefrorenem Boden und Nachtfrost förderte die Schwimmschneebildung in den österreichischen Alpen mit unterschiedlicher Intensität und wurde von uns als die Vorstufe zur zu erwartenden Lawinenzeit angesehen. Beim nächstfolgenden Schneefall, meist in Verbindung mit Wind und Verfrachtung, kam es zur schlagartigen Lawinengefahr und damit Unfallhäufung.

Es war eines der wichtigsten Ziele, den angehenden Bergführern nicht nur das gesamte Spektrum der Schnee- und Lawinenkunde zu vermitteln, sondern sie zur Beobachtung der Schneedeckenentwicklung vom Herbst an, insbesondere im eigenen Standortgebiet, anzuregen. Nur so konnten die vorausschauenden Maßnahmen und Planungen im Hinblick auf eine Lawinenzeit gewährleistet werden.

Es mussten auch die Einschätzungsprobleme bei Standortwechsel und Reisetätigkeit im Alpenraum und zu den Bergen der Welt besonders bewusst gemacht werden. Die Lawinenzeiten waren in den Folgejahren nicht in jeder Saison gegeben. Die Winter 1989–1995 hatten wieder einen milden und teilweise schneearmen Verlauf.

Die Unfallzahlen sanken weit unter die Hälfte jener der 80er-Jahre. Das Phänomen Lawinenzeit geriet beinahe in Vergessenheit, bis es im Winter 1996 dramatisch zurückkehrte. In der Zeitspanne von 17. bis 25. Februar 1996 gab es 11 Lawinentote. Allein am Sonntag, den 18. Februar, ereigneten sich in wenigen Stunden 24 Unfälle mit 8 Lawinentoten.

Erkenne den rechten Ort zum richtigen Zeitpunkt!

Aus meinem beruflichen Leben möchte ich ein für mich sehr prägendes Erlebnis schildern: Ich befand mich von 19.–23. Februar 1996 mit meiner Lieblingstourengruppe vom ÖAV Fürstenfeld im Zederhaustal/Lungau. Die Gruppe hatte auf eigenen Wunsch das Gebiet gewählt und beim Klauswirt Quartier bezogen.

Ich selbst kannte damals den Lungau als Tourengebiet noch nicht und eine Eingehtour in den großen Kessel auf die Aignerhöhe war ein vorsichtiger Start. Der Klauswirt empfahl uns eine Tour zu seiner Mesner Alm (1819 m) unterhalb der Nordhänge der 2360 Meter hohen Wabenspitze (Abb. 2). Der Aufstieg entlang der Sommermarkierung über steiles Waldgelände war wegen grundlosen Schwimmschnees sehr mühsam und hätte sich sicher nicht für eine Abfahrt geeignet.

Auf der Karte sieht man das von Hoi beschriebene lawinöse Gebiet bei Zederhaus. Der rechte Pfeil markiert die Mesner Alm, der linke den Forstweg, auf den er für die Abfahrt auswich.
Abb. 2 Auf der Karte sieht man das von Hoi beschriebene lawinöse Gebiet bei Zederhaus. Der rechte Pfeil markiert die Mesner Alm, der linke den Forstweg, auf den er für die Abfahrt auswich.

Unmittelbar bei den Almhütten ankommend konnten wir im benachbarten Steilgelände eine Fernauslösung als Augenzeugen erleben (Abb. 3). Insgeheim dachte ich mir: Aus diesem Tag wird wohl eine Lawinenexkursion zu machen sein! Wir konnten den Aufstieg noch ca. 200 Höhenmeter über einen sicheren, flachen, mit schütterem Lärchenbestand bewachsenen Rücken fortsetzen.

Die östlichen Steilhänge waren bereits alle entladen und man konnte gefahrlos auf den Gleitbahnen nahe an den Anrissen aufsteigen. Während unserer Aktion wurden in den westlichen Hängen in größerer Entfernung Auslösungen durch uns provoziert (Abb. 4). Es war ein beeindruckendes Schauspiel, die lockeren Schneebretter in eine große Mulde mit Lawinenverbauungen stürzen zu sehen. Es war auch für mich höchst beeindruckend, ich hatte eine derart große Sensibilität für Fernauslösungen noch nie erlebt.

Die von der Gruppe beobachtete Fernauslösung bei der Mesner-Alm bei Zederhaus.
Abb. 3 Die von der Gruppe beobachtete Fernauslösung bei der Mesner-Alm bei Zederhaus.

Den Rückweg ins Tal plante ich ab Mesner Alm über die Wastalberg Forststraße, welche sich nach einem Kilometer flacher Querfahrt in endlosen Kehren steil durch den Wald zurück nach Zederhaus schlängelte (Abb. 2). Bei den Almhütten ließ ich die Gruppe wartend zurück und erklärte, zuerst alleine eine etwa 50 Meter lange Spur auf der noch flachen Straße entlang eines 40 Grad steilen offenen Hanges bis in den geschützten Bereich des dichten Waldes zu ziehen.

Natürlich war ich gewarnt und beäugte beim Hinüberschieben ständig den Hang über mir. Tatsächlich waren da plötzlich Risse und Sprünge zu sehen und im Endspurt mit Stockschüben erreichte ich das Ende der Passage und rettete mich hinter eine große Lärche. Hinter mir war die Forststraße einen Meter hoch verschüttet! Der weitere Weg auf der Forststraße zurück ins Tal war ab hier gefahrlos möglich.

Das war eine Skitour der besonderen Art zu einer Lawinenzeit mit noch nie erlebter Ernsthaftigkeit und akuten Gefährdung. Ich wollte keine weiteren Touren im Zederhaustal unternehmen und suchte nach einem Ausweg aus diesem Dilemma. Die nächsten drei Tage fuhren wir vom Klauswirt hinaus aus dem engen Tal, 30 Kilometer quer durch den Lungau, zur Südabdachung der Schladminger Tauern.

Fernauslösungen Lawinen
Abb. 4 Fernauslösungen von Lawinen in allen Expositionen.

Wir trafen auf den Südhängen der „großen Rüben“ völlig konträre Schneeverhältnisse an. Dort konnte sich zu Winterbeginn keine ständige Schneedecke entwickeln und es gab daher auch keine Schwimmschneebildung. Der gesamte Aufstieg auf den Preber bestand aus reinstem Pulverschnee ohne die geringste Schneebrettgefahr. Ich habe selten die Skitouren auf den Preber, Gumma und Gensgitsch so gut und menschenleer erlebt. Ich bin dankbar für das Schlüsselerlebnis während der Zederhauswoche und die daraus zu ziehenden Lehren!

„Erkenne die Entstehung von Lawinenzeit und versuche in dieser Phase jede risikobehaftete und zu Unfällen neigende Planung und Aktivität zu vermeiden. Nur mit dieser konsequenten Einstellung ist ein lebenslanges, unfallfreies Skibergsteiger-leben in den winterlichen Bergen möglich.“

Klaus Hoi

„Lawinenzeit“ in der Ausbildung

Meine eigenen Versuche und Bemühungen, lawinenkundliches Wissen in verschiedenen Ausbildungen weiterzugeben, haben mich immer wieder an der Umsetzbarkeit von Theorie zweifeln lassen. Schließlich kam ich zur Einsicht, dass nur eine praxisbezogene Lehre etwas bewirken kann. Damit meine ich Unterricht in der Natur unter Echtheitsbedingungen. Existierende Bedingungen mit anschaulichen Beispielen aus dem Wettergeschehen, Schneedeckenaufbau, Geomorphologie in Verbindung mit qualitätvollen Skitouren.

In einem praxisbezogenen Unterricht wird in Schnee- und Lawinenkunde über sichtbare und begreifbare Fakten gesprochen. Auch unfallkundlich sollte mit Beispielen aus dem direkten Umfeld und Zeitraum gearbeitet werden. Besonders lehrreich ist natürlich eine Exkursion zu einem Unfallort in nächster Nähe. In der theoretischen und praktischen Wissensvermittlung wird das Entstehen und Erkennen von „Lawinenzeiten“ viel zu wenig beachtet, obwohl es in den letzten Wintern immer wieder voraussehbar zu Lawinenzeiten gekommen ist.

Zumindest von österreichischen Experten wurde der Begriff bis zum letzten Winter nicht verwendet oder abgelehnt. Die einzige Ausnahme war Dr. Peter Höller, Experte für Naturgefahren am Bundesforschungszentrum für Wald, welcher zum Thema wissenschaftliche Arbeiten und Statistiken lieferte.

Standardmethoden greifen nicht

Die von internationalen Expertengruppen empfohlenen Methoden zur Gefahreneinschätzung (wie z. B. probabilistische und analytische Entscheidungsfindung) sind beim Eintreten einer Lawinenzeit nicht mehr ausreichend oder hilfreich. Empfehlen könnte ich noch eher eine intuitive Entscheidungsfindung (Bauchgefühl), um beim Eintritt einer Lawinenzeit von den großen Touren- und Abfahrten fernzubleiben und ein Alternativprogramm zu starten (Pistenfahren, praktische Schneekunde etc.).

Einige Beispiele für markante Lawinenzeiten in den letzten Jahren:

  • Februar 1996: innerhalb von 9 Tagen im Nordalpenbereich ca. 36 Unfälle mit 11 Toten
  • Februar 2005: innerhalb von 10 Tagen 12 Todesopfer in den Nordalpen
  • 4. Februar 2010: an einem Tag 6 Lawinentote vom Kleinen Walsertal bis zum Ötscher
  • 4./5. Februar 2022 Westösterreich/Tirol: in 2 Tagen an die 100 Lawinenabgänge/ 9 Lawinentote
  • 4./5. Februar 2023 Westösterreich: 8 Lawinentote

Beispiele können für jeden Teil der Alpen angeführt werden. Das Phänomen ist für einen Praktiker sehr einfach und logisch zu erklären und nicht nur auf ein Altschneeproblem zurückzuführen. In Wirklichkeit ist der Einfluss des Wetters bzw. Klimas in den verschiedenen Teilen der Alpen grundverschieden, insbesondere zwischen Nord und Südalpen, und dementsprechend sind die Schneeverhältnisse in puncto Sicherheit und Schneedeckenentwicklung je nach geographischer Lage stets neu zu bewerten.

Aufgrund der Klimaerwärmung und des damit einhergehenden veränderten Wettergeschehens wird es in Zukunft vermutlich zu einer Häufung von Lawinenzeiten kommen! Wer eine Lawinenzeit an seinem Standort rechtzeitig erkennt und akzeptiert, indem er sich in diesen wenigen Stunden oder Tagen sehr defensiv verhält, hat die beste Chance, als Skibergsteiger alt zu werden.

Zutaten für die „Lawinenzeit“

Der Begriff „Lawinenzeit“ kann relativ einfach und schlüssig erklärt werden: Symptomatisch dafür ist das plötzliche Ansteigen von Lawinenereignissen und Unfällen innerhalb eines begrenzten Zeitraumes und Gebietes. Es kommt nicht regelmäßig, aber oft voraussehbar zu besonderen wetterbedingten Gefahrenzeiten. Als Beispiel nehme ich die klimatischen Verläufe der fünf „schrecklichen“ Winter.

Der Winterbeginn im Oktober, November und Dezember ist zögerlich mit wenig Schnee. Wir haben es mit einem kalten Hochdruckgebiet zu tun. Dieses liegt über Sibirien und lässt die Kaltluft im Winter aus Nordosten in Richtung Karpaten und Alpen fließen. Hält diese Zufuhr sibirischer Kaltluft bei geringer Schneehöhe und sehr tiefen Temperaturen (–10 Grad und tiefer) über mehrere Tage an, so wird die Schneedecke destabilisiert durch die aufbauende Umwandlung.

Die neu entstandenen 2–3 mm großen Kristalle werden wegen der Bindungslosigkeit als Schwimmschnee (wie Schwimmsand in der Sahara) oder Tiefenreif (natürlich entsteht auch Oberflächenreif) bezeichnet. Die unter dem Einfluss des „Schwimmschneehochs“ entstandenen Reifschichten sind irreversibel. Sie bilden für den weiteren Winterverlauf durch geringe Stabilität und Scherfestigkeit das schwache Fundament für den nächsten meist mit Verfrachtung ablaufenden Schneefall.

Die leichte Störbarkeit auch unter 30 Grad sowie die Leitfähigkeit von Schwingungen vom Ebenen ins Steilgelände und in Berghänge führt zu unvorstellbaren Fernauslösungen. Es ist auch kein Märchen, dass bei derart sensibler Situation der Überschallknall eines Jets auslösend sein kann. Schnee ist eine sehr komplexe Materie, daher ist eine Lawinensituation immer wieder anders verlaufend und neu zu beurteilen.

In jedem Fall ist der Unterschied zu den üblichen Schneebrett- und Lawinenereignissen derart markant, dass die Bezeichnung Lawinenzeit gerechtfertigt ist. Der (Tiroler) Lawinenwarndienst sieht angesichts der Vielzahl an Lawinenereignissen ein Altschneeproblem und ein klassisches „Klumpenrisiko“ (Zustandekommen von starken Schneefällen samt Wind, Schönwetter und Ferien).

In der klassischen Schneekunde wurde eine stabile und gesetzte Schneedecke, feinkörnig mit der Härte 3 aufwärts und gut belastbar, als Altschnee bezeichnet. Inzwischen wird in der Lawinenkunde der Begriff Altschnee anders verwendet (siehe Auszug Blogbeitrag LWD). In Wirklichkeit zeichnet sich eine zukünftige „Lawinenzeit“ schon im Voraus ab und es bedarf nur noch das Eintreten verstärkender physikalischer Wetter- und Schneephänomene und wir haben von einem Tag auf den anderen eine hochbrisante Gefahrenzeit. Die meisten Skitourengeher und Variantenfahrer sind von der Situationsänderung völlig überrascht.

Blogbeitrag des LWD Tirol vom 10. Februar 2023 zur „Lawinenzeit“

… eine Lawinenzeit hatten wir zwischen dem 03.02. und dem 06.02.2023. Innerhalb dieses kurzen Zeitraums starben 8 Personen unter Lawinen. (Eine vergleichbare Lawinenzeit gab’s vergangenen Winter um dieselbe Zeit. Damals kamen zwischen dem 04.02. und dem 05.02. ebenso 8 Personen in Lawinen ums Leben.) Altschneeproblem unfallkausal.

Vorweg: Bei sämtlichen, kürzlich passierten tödlichen Lawinenunfällen war ein Altschneeproblem unfallkausal. Die Schneedeckenuntersuchungen vor Ort oder im Nahbereich der Lawinen- unfälle zeigten alle dasselbe Bild: Eine langlebige Schwachschicht aus kantigen Kristallen (teilweise mit Schwimmschnee) befand sich unterhalb einer dünnen Schmelzkruste. Darüber war ein meist sehr gut ausgepräg- tes Brett von den vorangegangenen Niederschlägen samt Verfrachtungen vorhanden.

Das Lawinenproblem „Altschnee“ geht oft – nicht immer – einer „Lawinenzeit“ voraus.
Das Lawinenproblem „Altschnee“ geht oft – nicht immer – einer „Lawinenzeit“ voraus.

„Die deutschsprachigen Lawinenwarndienste haben sich während ihrer vergangenen Tagung im Mai 2023 in Vorarlberg darauf geeinigt, den Begriff ‚Lawinenzeit‘ gezielt in ihr Vokabular aufzunehmen. Eine kommunizierte Lawinenzeit soll genauso wie ein spezifisches Lawinenproblem ein Verhalten auslösen. Während einer Lawinenzeit kann dies Verzicht oder extrem defensives Verhalten sein. Immerhin ließen sich dadurch während einer verhältnismäßig sehr kurzen Zeit eines Winters etwa 25 Prozent der tödlichen Lawinenunfälle vermeiden.“

Patrick Nairz, LWD Tirol

Lawinenzeit – Analyse und Folgerungen

Nach Hoi (2023) ist eine „Lawinenzeit“ durch ein plötzliches Ansteigen von Lawinenereignissen und Unfällen innerhalb eines begrenzten Zeitraumes charakterisiert. Der Begriff beschreibt eine (zumeist kurze) Periode mit kritischer Lawinensituation. Derartige lawinenaktive Zeiträume dauern oft nur wenige Tage, doch gerade an diesen Tagen gibt es regelmäßig eine Häufung von touristischen Unfällen.

Von Peter Höller

Prädestiniert sind Winterperioden mit wenig Schnee und tiefen Temperaturen, wodurch die aufbauende Umwandlung und die damit einhergehende Schwimmschneebildung voranschreiten kann. Kommt es in solchen Winterperioden zu einem markanten Schneefall, meist in Verbindung mit Wind, steigt die Lawinengefahr in der Regel rasch an, was die erwähnten Unfallhäufungen zur Folge hat. Zur Eingrenzung solcher Zeiten kann eine von Arnold Lunn schon im Jahr 1913 aufgestellte Regel herangezogen werden.

Er notierte folgende Zeilen: „Misstraue nach einem Schneefall allen steilen Hängen, bis die Bäume wieder frei von Schnee sind.“ Verhältnisse wie in Abb. 1 dargestellt erfordern daher – sobald die Waldgrenze überschritten wird – eine besonders genaue Beurteilung der herrschenden Situation. Flaig schreibt – ohne den Begriff Lawinenzeit explizit zu verwenden – in seinem 1935 erschienenen Buch „Lawinen!“: „Nicht das Gelände, sondern die Verhältnisse sind allererste Ursache und ausschlaggebend.

Es gibt in den Alpen keine besonders lawinengefährlichen Gebiete, wohl aber todbringende Schnee- und Wetterlagen.“ Diese – wie sie Flaig nennt – todbringenden Schnee- und Wetterlagen können auch im Sinne der Lawinenzeiten interpretiert werden. Lange Erfahrung mit Lawinenzeiten hat auch Klaus Hoi, ein bekannter österreichischer Alpinist und Bergführer.

Wie Hoi im vorhergehenden Artikel schreibt, hat er dieses Thema schon 1978 aufgegriffen und so eine entscheidende Verbesserung der Winterausbildung der Österreichischen Berg- und Skiführer erreicht. Analyse Höller (2012) hat Häufungen von Lawinenunfällen untersucht und festgestellt, dass derlei Häufungen in vielen Wintern zu beobachten sind. Oftmals gibt es sogar mehr als eine Periode pro Winter, in der ein konzentriertes Auftreten von Unfällen erkennbar ist.

Zwei in dieser Untersuchung analysierte Winter seien hier näher erläutert: 1995/ 96 und 2009/10. Beide Winter waren geprägt von einem schlechten Schneedeckenaufbau. Wie Bauer (1997) schreibt, war die ungünstige Situation 1995/96 auf die tiefen Temperaturen und die geringen Niederschlagsmengen, wodurch die Schwimmschneebildung begünstigt wurde, zurückzuführen.

Nach Schneefällen ab dem 14. Februar 1996 verbunden mit stürmischem Wind gab es am 18. Februar 1996 einen außergewöhnlich starken Anstieg der Unfälle (Abb. 2). 24 Unfälle an einem Tag verkörperten mehr als ein Viertel aller Unfälle im Winter 95/96. Ein Fünftel aller Toten in diesem Winter war an diesem Tag zu beklagen. Ursache für diese Situation waren einerseits die schwache Basis der Altschneedecke, andererseits die Mitte Februar einsetzenden Schneefälle.

Verteilung der Lawinenunfälle und Lawinentoten im Winter 1995/96.*
Abb. 2 Verteilung der Lawinenunfälle und Lawinentoten im Winter 1995/96.*

Dieser Neuschnee, der zum Teil stark durch den Wind verfrachtet wurde, lag schlecht gebunden auf der aufbauend umgewandelten Altschneedecke. Auch der Winter 2009/10 war schneearm mit ausgeprägten Schwimmschneeschichten. So notierte der Lawinenlagebericht Tirol am 24. Jänner 2010: „In tiefen und mittleren Lagen finden sich vielfach kantige Kristalle, inzwischen immer häufiger auch Schwimmschnee …“, und am 25. Jänner 2010 liest man im entsprechenden Lawinenbulletin: „… die Schneehöhen sind im Vergleich zum langjährigen Mittelwert unterdurchschnittlich …“.

Die Voraussetzungen für eine mögliche kritische Situation lagen also auch 2009/10 vor. Und genau eine solche Situation trat bereits Ende Jänner 2010 ein, als nach Neuschnee mit stürmischem Wind die Lawinengefahr zunahm und ein signifikanter Anstieg bei den Lawinenunfällen (Abb. 3) zu verzeichnen war. Zwischen 2. und 8. Februar 2010 ereigneten sich 48 Unfälle, was ungefähr einem Viertel aller Unfälle in diesem Winter entsprach.

Verteilung der Lawinenunfälle
Abb. 3 Verteilung der Lawinenunfälle und Lawinentoten im Winter 2009/10.*

15 Personen kamen ums Leben, allein am 4. Februar 2010 gab es sechs Todesopfer zu beklagen (Abb. 3). Ähnlich wie der Winter 1995/96 war auch das Jahr 2009/10 geprägt von unterdurchschnittlichen Schneehöhen, wodurch die Ausbildung von Schwimmschnee begünstigt wurde. Der mit stürmischem Wind verbundene Niederschlag Ende Jänner verursachte in der Folge große Triebschneeansammlungen, welche eine nur äußerst schwache Bindung mit der Altschneedecke hatten.

Wirft man einen Blick in die jüngere Vergangenheit, so stechen vor allem die beiden letzten Winterperioden (2021/22 und 2022/23) hervor. Auch diese wiesen unterdurchschnittliche Schneehöhen auf. Während die Schneedecke 2021/22 aus diversen Krusten und Triebschneepaketen bestand, unter denen teils auch schwache Schichten aus kantigen Kristallen lagen, waren 2022/23 vor allem Schichten aus aufbauend umgewandelten Kristallen vorhanden.

In beiden Winterperioden gab es – ausgelöst durch Neuschnee und Sturm in der fünften Kalenderwoche – eine markante Häufung von Unfällen und Toten, und zwar jeweils am 4. Februar. 2021/22 wurden allein an diesem Tag 14 Unfälle mit acht Todesopfern verzeichnet. Vom 3. bis zum 5. Februar gab es insgesamt 30 Unfälle mit neun Toten (Abb. 4). Ein Jahr später ereigneten sich am 4. Februar elf Unfälle mit fünf Todesopfern, im viertägigen Zeitraum vom 3. bis zum 6. Februar waren es 30 Unfälle mit neun Toten (Abb. 5).

Die Winter 2021/22 und 2022/23 verdeutlichen einmal mehr den Stellenwert der „Lawinenzeiten“. Unabhängig davon, dass in Summe 33 Opfer zu verzeichnen waren, hatten die beiden Winter insofern Bedeutung, als das Thema wieder in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt ist, geraten Lawinenzeiten doch allzu oft in Vergessenheit – insbesondere dann, wenn über mehrere Jahre hinweg keine derartigen Situationen aufgetreten sind (siehe unten).

Verteilung der Lawinenunfälle und Lawinentoten im Winter 2021/22.*
Abb. 4 Verteilung der Lawinenunfälle und Lawinentoten im Winter 2021/22.*

Folgerungen

Das Verfolgen des Witterungsverlaufs über den Winter hinweg ist ein wesentlicher Schlüssel zur Einschätzung der jeweils aktuellen Lawinenlage. Eine kontinuierliche Beobachtung des Wettergeschehens kann maßgeblich helfen, die jeweils vorherrschende Lawinensituation entsprechend zu beurteilen. Dadurch lässt sich ein umfassender Überblick über die Schneedeckenentwicklung (z. B. Ausbildung langlebiger Schwimmschneeschichten) gewinnen, sodass – wie Hoi (2023) schreibt – vorausschauende Maßnahmen und Planungen insbesondere auch im Hinblick auf eine mögliche Lawinenzeit abgeleitet werden können.

Für erfahrene Personen, die entsprechende Beobachtungen regelmäßig durchführen, kommen Lawinenzeiten auch nicht völlig unerwartet, sondern zeichnen sich schon im Vorhinein ab (Hoi, 2023). Eine Winterperiode mit geringmächtiger Schneedecke einschließlich einer im weiteren Verlauf des Winters vorherrschenden längeren Phase mit tiefen Temperaturen erfordert immer größte Aufmerksamkeit. Die Ausbildung aufbauend umgewandelter Kristalle bzw. ausgedehnter Schwimmschneeschichten ist sehr wahrscheinlich.

Ein ergiebiger Schneefall in solchen Jahren bewirkt zumeist eine kritische Lawinenlage, die regelmäßig in eine Lawinenzeit mündet. Beim Eintritt einer Lawinenzeit sollte man großen Touren- und Abfahrten fernbleiben (Hoi, 2023). Natürlich gibt es nicht in allen Winterperioden mit unterdurchschnittlicher Schneehöhe auch ausgeprägte Lawinenzeiten. Bleiben markante Schneefälle aus, sodass die schwache Basis durch die Auflast von Neu- und Triebschnee nicht ausgelöst werden kann, sind damit zusammenhängende Häufungen von Unfällen weniger signifikant.

Dann stehen Unfälle eher mit dem Problem 3 in Verbindung (Höller, 2021). Dieses Problem charakterisiert eine Altschneesituation. Der Ausdruck ist gewiss etwas widersprüchlich, da das Problem nicht unmittelbar durch den Altschnee zustande kommt, sondern eine Folge von Schwachschichten in der Altschneedecke ist. Daher bezeichnet der englische Ausdruck „persistent weak layers“ eine derartige Situation deutlich besser. Unfälle im Zusammenhang mit dem Problem 3 werden sich nie ganz verhindern lassen, ist dieses Problem doch auch für Experten schwierig einzuschätzen.

Verteilung der Lawinenunfälle und Lawinentoten im Winter 2022/23.*
Abb. 5 Verteilung der Lawinenunfälle und Lawinentoten im Winter 2022/23.*

Neuschneesituationen können aber mit etwas Übung auch von weniger erfahrenen Personen relativ gut erkannt werden. Deshalb sollten Schulungen und Kurse das Augenmerk auf das Erkennen des Neuschnee- (Abb. 1), aber auch des Triebschneeproblems (Abb. 6) legen, abgesehen natürlich davon, zunächst das Wissen über die – im Hinblick auf mögliche kritische Lawinensituationen – notwendigen Vorbedingungen zu vermitteln (siehe oben). Die alleinige Vermittlung probabilistischer Methoden ist jedenfalls unzureichend.

Ziel jeder lawinenkundlichen Ausbildung muss sein, Tourengehern das selbstständige Erkennen solcher Lawinenzeiten anzutrainieren. Würden Alpinisten an diesen wenigen Tagen eines Winters auf Skitouren verzichten oder nur Touren im organisierten Bereich bzw. im mäßig steilen (Wald-)Gelände unternehmen, so würde die Opferzahl deutlich sinken.

Hafelekar Innsbruck
Abb. 6 Schneeverfrachtung durch stürmischen Wind im Bereich des Hafelekars bei Innsbruck. Foto: Peter Höller.

Literatur

  • Bauer, H. 1997. Lawinenunfälle im Winter 1995/96 in den österreichischen Alpenländern. Sicherheit im Bergland, Jahrbuch 97 des ÖKAS 105–145.
  • Flaig, W. 1935. Lawinen. Brockhaus, Leipzig, 173 S.
  • Hoi, K. 2023. Lawinenzeit – ein tödliches Phänomen. Bergundsteigen #125, 4/23, 32–37
  • Höller P. 2012. The cumulation of avalanche accidents in certain periods– an analysis of backcountry events in Austria. In: Proceedings International Snow Science Workshop, Anchorage, Alaska, USA, 329–332.
  • Höller P. 2021. Örtliche und zeitliche Verteilung von touristischen Lawinenunfällen in Österreich sowie deren Bezug zu den Lawinenproblemen. In: Tagungsband des 4. Internationalen Lawinensymposiums, Graz, 20–24.
  • Lunn A. 1913. Skiing. Eveleigh Nash, London, 257 S, 20–24.

Erschienen in der
Ausgabe #125 (Winter 23-24)

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