
Kind statt Gipfel: Wenn die Berge warten müssen
Eine kleine Kinderhand reicht mir meine Sportuhr. Wo ich sonst Zahlen zu Uhrzeit und Höhe ablese, sehe ich nur ein graugrünes, leeres Display. Die Batterie ist leer, keine Ahnung wie lange schon. Im April 2023 habe ich sie das letzte Mal an meinem Handgelenk, bei einer Figltour in den Ammergauer Alpen, einem wunderbaren Ausklang der „Schneesaison“.

Wenige Wochen danach bin ich schwanger. Wenige Wochen danach ist mir übel, so übel, dass weder an Berg- noch sonstige Touren zu denken ist. Jeden Tag, bis zur Geburt. Und dann ist sie endlich da, unsere kleine Bergsteigerin, auf die wir so lange gewartet haben und über die wir uns so sehr freuen! Und da sie nicht zu den Kindern gehört, die gerne im Tragetuch auf Berge (oder sonst wohin) getragen werden, die gerne im Kinderwagen liegen oder sitzen, die gerne Autofahren, gehören wir nicht zu den Eltern, die ihre Bergleidenschaft (kindgerecht) weiterführen.

Zwei Jahre nach besagter Figltour sehe ich Berge nur noch in Zeitschriften oder im Fernsehen (in den seltenen Momenten, in denen ich Ruhe habe und nicht selbst schlafen muss…). Für soziale Medien bleibt (zum Glück) eh keine Zeit. Es kommt mir vor wie ein Blick in (m)ein altes Leben. Ich versuche mich zu erinnern, wie das war: Wie fühlt sich warmer Fels an? Wie klingt das „Klackklack“ der Harscheisen auf Skitour? Wie erfrischend ist ein Schluck lauwarmes Wasser nach schweißtreibendem Aufstieg in den Latschen?

Angst nicht zu vermissen
Sehnsucht? Nein. Trauer? Nein. Wehmut? Nein. Nicht mal Schönwetterstress? Nein. Oder gar Angst, etwas zu verpassen (fear of missing out, FOMO – Margarete Moulin über FOMO, Social Media & Alpinismus)? Schon gar nicht. Im Gegenteil: Ich habe Angst, diese Erlebnisse nicht mehr zu vermissen. In der Fachsprache nennt man das vermutlich FOMMO (fear of missing missing out).
Angst, etwas nicht mehr zu vermissen? Was ist daran eigentlich so schlimm? Ok, ich arbeite nebenberuflich als Autorin für alpine Themen, da geht mir irgendwann der Stoff für Reportagen aus (wie Tom Dauer das im „Leben im Wärmetauscher“ so schön beschrieben hat). Aber meine Angst bezieht sich auf den privaten Part, den die Berge für mich gespielt haben: die Freude am Führen für meine Alpenvereinssektion, die intensiven Bergerlebnisse mit Freunden sommers wie winters. Wieso vermisse ich das nicht?
Angst vor der Selbsterkenntnis
Habe ich Angst, die sozialen Kontakte zu verlieren? Nein, denn meine Bergfreunde sind zum Glück auch ohne gemeinsame Bergerlebnisse noch Freunde und Teil meines Lebens.
Habe ich Angst, dass dort, wo die Berge so viel Raum einnahmen, nun ein leeres Loch ist? Nein, da ist kein Loch, da ist eine wunderbare neue Welt, in der mir ein kleiner Mensch zeigt, was das Leben bedeutet, was wichtig ist, was Liebe ist. (Und langweilig wird es auch nicht!)

Anne, das ist eben eine Phase.
Was ist es dann? Die Antwort kommt schleichend, angestoßen durch den Satz einer Freundin: „Anne, das ist eben eine Phase.“ Habe ich in Wahrheit Angst vor dem, was nach dieser Phase kommt? Habe ich Angst zu erkennen, dass mir mit 37 Jahren zum ersten Mal klar wird, dass ein Teil meines Lebens abgeschlossen ist?
Freude statt Angst
Je mehr ich nachdenke, desto mehr weichen diese Ängste der Akzeptanz, der Dankbarkeit und der Vorfreude: Wie dankbar ich bin, dass ich so viele intensive Erlebnisse in den Bergen erleben durfte! Und wir sehr ich mich auf all die Erlebnisse freue, die das Leben (und der neue, kleine Mensch in diesem) mir jetzt und in Zukunft bringen – egal ob mit Bergen oder nicht!
Ich schreibe diesen Artikel übrigens am 1. Mai 2025. In den Nordalpen ist strahlender Sonnenschein. Meine Figlfreunde wollen heute zum Schinder, es ist einer der wenigen und vermutlich auch einer der letzten Tage, an denen Figln möglich ist. Auch gut. Ich freue mich stattdessen (cf. Marcel Kraaz „FOMO – oder die Freude am Verpassen“), zum nahegelegenen Fluss zu laufen, eine kleine Kinderhand in der meinen – ohne Sportuhr.
