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Tyler Andrew ist einer der extremsten Ausdauersportler mit großen Expeditionsprojekten
22. Sep. 2025 - 9 min Lesezeit

Speed-Versuch am Mount Everest: Gelingt Tyler Andrews der Rekord ohne Sauerstoff?

Weniger als 450 Höhenmeter trennten ihn im Mai vom Gipfel des Mount Everest – dann musste Tyler Andrews, einer der extremsten Ausdauersportler der Welt, zum dritten Mal umkehren. Jetzt ist der US-Amerikaner zurück am höchsten Berg der Erde, bereit für einen vierten Versuch. Im Interview spricht der 35-Jährige über Grenzerfahrungen ohne Flaschensauerstoff, politische Unruhen in Nepal, PR-Stunts mit Xenon – und darüber, warum er trotz Rückschlägen nicht aufgibt.

bergundsteigen: Herr Andrews, Sie befinden sich aktuell wieder am Mount Everest. Wie fühlen Sie sich?

Tyler Andrews: Bisher läuft es hier in Nepal trainingstechnisch sehr gut. Ich fühle mich stark und bereit. Natürlich war es schwer, die politischen Unruhen im Land mitanzusehen. Ich liebe dieses Land sehr und habe über die Jahre viele enge Freundschaften aufgebaut – einige davon waren direkt von der Gewalt betroffen. Aber in den Bergen blieb es während der Proteste in Kathmandu Anfang September ruhig.

Tyler Andrew auf Expedition
Foto: Chris Fisher

Im Mai haben Sie dreimal versucht, einen Speed-Rekord am Mount Everest aufzustellen – und mussten jedes Mal abbrechen. Wie war der Moment, als Sie zuletzt umkehren mussten?

Ich war völlig am Ende. Kurz über dem „Balkon“ auf 8.400 Metern entschied ich umzudrehen. Zu diesem Zeitpunkt begann ich schon zu halluzinieren. Ich hatte mir vorher klare Abbruchkriterien gesetzt, und eines war: Wenn ich nicht mehr sicher allein absteigen kann, ist Schluss. Die Entscheidung fiel mir schwer, aber sie war eindeutig.

Tyler Andrew in seiner Heimat
Foto: Chris Fisher

Für viele kam es überraschend, dass Sie überhaupt einen dritten Versuch gewagt hatten. Die Saison galt aufgrund der Wetterlage eigentlich als beendet.

Wir waren schon im Tal, ich hatte sogar eine Nacht im Hotel in Kathmandu geschlafen. Dann kam plötzlich die Info: Der Berg wird für ein indisches Militärteam noch einmal geöffnet. Innerhalb von zwölf Stunden haben wir umgeplant, sind zurück ins Basislager, und 36 Stunden nach dem zweiten Abbruch war ich wieder auf dem Weg nach oben.

Ein Auf und Ab im Wortsinne, und das ohne Flaschensauerstoff. Und dann muss man auch noch klar bei Sinnen bleiben.

Viele hatten mir vorher nicht zugetraut, in so einer Situation die richtige Entscheidung zu treffen. Manche kontaktierten sogar meine Familie, um mich davon abzuhalten, allein hochzugehen. Aber ich wusste: Ich kann mich auf mich verlassen. Das war eine wichtige persönliche Bestätigung.

Was haben Sie für Ihren vierten Versuch optimiert?

Die größte Erkenntnis aus den ersten drei Versuchen war, wie komplex das Projekt wirklich ist. Alles beeinflusst sich gegenseitig: das Wetter, die Anzahl anderer Bergsteiger, die Logistik. Wenn man einen Prozess verschlankt, eliminiert man viele Fehlerquellen. Deshalb lautet mein Hauptziel: Vereinfachung. Weniger Abhängigkeiten, weniger Material, weniger Höhenlager.

Tyler Andrew mit Steigeisen und Seilsicherung am Gletscher
Foto: Chris Fisher

Und wieder ohne zusätzlichen Sauerstoff?

Ja, definitiv. Zur Sicherheit werden wir eine Sauerstoffflasche im Lager vier auf 8000 Metern deponieren, wo sich auch eine andere Person befinden wird. Aber das ist nur für Notfälle. Mein Ziel ist es, den Aufstieg komplett autark zu schaffen.

Welcher Rekord ist das eigentlich genau, den Sie da brechen wollen?

Es gibt derzeit nur einen anerkannten Rekord für den Aufstieg ohne zusätzlichen Sauerstoff, der aktuell bei 20 Stunden und 24 Minuten liegt, aufgestellt von Kazi Sherpa im Jahr 1998. Ihn zu unterbieten, ist unser Hauptziel. Der kombinierte Aufstieg und Abstieg in Rekordzeit wäre zwar interessant, aber es gibt dafür keine offizielle Bestmarke. Mein Wunsch ist, an einem einzigen Tag sicher wieder herunterzukommen, das wäre einzigartig. Aber der Fokus liegt klar auf dem Aufstiegsrekord.

Im Mai hatten Sie einen direkten Konkurrenten am Berg, den Schweizer Karl Egloff, der ebenfalls einen Rekordversuch wagte. Hat Sie das beeinflusst?

Ehrlich gesagt: Nein. Karl und ich waren beide Teil eines Filmprojekts für einen großen Streamingdienst. Wir hatten dasselbe Ziel, aber das hat mein Vorgehen nicht verändert. Zumal Karl mit seinem eigenen Team unterwegs war. Auch er hat den Gipfel nicht erreicht. Ich habe großen Respekt vor Karl. Er hat die Messlatte beim Speedbergsteigen extrem hoch gelegt, indem er auf der ganzen Welt Bestzeiten aufgestellt hat.

Sie waren ursprünglich Leichtathlet, haben Marathonläufe auf der Straße und Ultraläufe im Gelände absolviert. Hilft Ihnen das beim Bergsteigen?

Ich nutze meine Erfahrung aus dem Laufsport, um effizient zu bleiben, mich optimal vorzubereiten und mich körperlich anzupassen.

Tyler Andrew mit Steigeisen am Berg
Foto: Chris Fisher

2024 haben Sie einen Geschwindigkeitsrekord am Manaslu aufgestellt, dem achthöchsten Berg der Welt. Sie haben den Gipfel in neun Stunden und 52 Minuten erreicht – und das in Laufschuhen.

Die Bedingungen waren an diesem Tag perfekt: kein Wind, warmes Wetter, stabile Verhältnisse. Ich trug spezielle Laufschuhe mit integrierter Gamasche. Natürlich war das ein Risiko. Wäre das Wetter umgeschlagen, hätte das gefährlich enden können. Aber es passte einfach alles. Das war eine Ausnahme, die ich niemals wiederholen oder jemand anderem empfehlen würde.

Manche sehen Sie vor allem als Läufer und bezweifeln, dass Sie die nötigen Fähigkeiten fürs Hochgebirge mitbringen. Was entgegnen Sie denen?

Ich sage selbst oft, dass ich kein Elite-Bergsteiger bin. Ich bin kein Alpinist, der Free Solo klettert oder technische Wände bezwingt. Ich habe große Leidenschaft für diesen Sport und bewundere die echten Könner. Aber das Speedbergsteigen ist eine andere Kategorie innerhalb des Bergsports.

Wie meinen Sie das genau?

Es ist wie in der Leichtathletik: Ein Kugelstoßer ist auch kein Langstreckenläufer. Beides gehört zum selben Sport, erfordert aber völlig verschiedene Fähigkeiten. Ich bin Läufer durch und durch, das war mein erster Sport, meine erste Liebe, und das prägt meine Herangehensweise. Ich bringe meine Ausdauer in die Berge mit und will sehen, wie weit ich damit komme.

Kritiker werfen Ihnen vor, Sie würden die Risiken des Höhenbergsteigens durch Ihren Ansatz relativieren.

Das sehe ich anders. Die Kommerzialisierung, gerade im Himalaja, hat es möglich gemacht, dass auch Athleten wie ich dort aktiv sein können. Vor 30 Jahren wäre es für mich undenkbar gewesen, den Everest zu versuchen. Heute gibt es Fixseile, vorbereitete Routen, Unterstützungsteams – das macht vieles zugänglicher. Und ja, ich nutze diese Infrastruktur.

Wenn ich die Chance habe, den Everest in einem Tag zu besteigen, warum sollte ich es nicht versuchen?

Tyler Andrew kommt ursprünglich aus dem Leichtathletik und Marathon Sektor
Foto: Chris Fisher

In Ihrer Kindheit erkrankten Sie an aplastischer Anämie, einer seltenen und lebensbedrohlichen Erkrankung des blutbildenden Systems. Wie hat Sie das geprägt?

Ich war fast ein Jahr lang im Krankenhaus, konnte nicht zur Schule gehen. Ich wusste natürlich, dass es ernst ist, aber ich war eben auch nur ein Kind. Die eigentliche Wirkung kam später, als Teenager, als ich begann, bewusst über Sterblichkeit nachzudenken. Was ich rückblickend wirklich sehe: Ich hatte großes Glück. Ich lebte in Boston, Massachusetts, und hatte Zugang zu erstklassiger medizinischer Versorgung.

Würden Sie sagen, dass diese Krankheit Ihre Sicht auf das Leben verändert hat?

Ich habe früh verstanden, wie endlich das Leben ist. Das hat mich geprägt und mir ein Gefühl gegeben, meine Zeit sinnvoll nutzen zu müssen. Viele meiner Freunde, die so wie ich ein Ingenieurstudium abgeschlossen haben, arbeiten heute in sicheren Jobs und verdienen vermutlich mehr als ich.

Ich habe mich mit 22 entschieden, ein Jahr Pause zu machen, um meinen Sport intensiv zu betreiben. Inzwischen sind daraus 15 Jahre geworden. Das hätte ich wahrscheinlich nicht getan, wenn ich nicht dieses tiefe Bewusstsein für die Endlichkeit gehabt hätte.

Wie sieht Ihre Familie das alles?

Die Beziehung zu meiner Familie wurde sehr stark durch die Krankheit geprägt, und auch jetzt durch meine Expeditionen. Natürlich würden meine Eltern es bevorzugen, wenn ich einen sicheren Beruf hätte, aber sie haben mich immer unterstützt.

Nach meiner ersten Everest-Expedition sagten mir Familie und Freunde: „Du hast keine Ahnung, wie gestresst wir waren. Wir haben jede Nacht deinen Live-Tracking-Punkt beobachtet, und als er stehen blieb, wussten wir nicht, ob er kaputt war oder ob dir etwas passiert ist.“ Da wurde mir klar, wie viele Menschen emotional in mein Vorhaben involviert sind.

Tyler Andrew auf Expedition in Nepal
Zurück in den Himalaya. Foto: Chris Fisher

Nun findet Ihr vierter Versuch diesen Herbst statt, eine Zeit, in der am Everest wenig los ist.

Erst als ich wusste, dass in diesem Zeitraum überhaupt eine weitere Expedition stattfinden würde, habe ich mich entschieden, ebenfalls zurückzukehren. So war klar, dass es Fixseile geben und eine Infrastruktur vorhanden sein würde. Ohne die logistische Unterstützung einer größeren Expedition wäre es für mich weder finanziell noch praktisch umsetzbar gewesen.

Einige sagen, dass der Herbst durch den Klimawandel zur neuen Hauptsaison am Everest werden könnte. Stimmen Sie dem zu?

Einerseits gibt es im Herbst deutlich weniger Wetterdaten, was die Prognosen schwieriger macht. Oft liegt mehr Schnee, und damit steigt die Lawinengefahr. Außerdem sind die stabilen Tage seltener als im Frühjahr. Der große Vorteil, andererseits: Es sind kaum Menschen am Berg – statt Tausend wie im April und Mai vielleicht nur 20. Das macht alles deutlich sicherer und logistisch einfacher, vor allem für Speed-Projekte wie meines.

Tyler Andrew beim Lauf vor einem großen Bergmassiv
Foto: Chris Fisher

Wie bereiten Sie sich vor?

Ich lebe in Ecuador, auf 3000 Metern Höhe, trainiere fast täglich auf 4700 Metern und nutze zu Hause ein hypoxisches Gerät, mit dem ich quasi ein Training auf 9000 Metern simulieren kann. So kann ich möglichst akklimatisiert anreisen, ohne viele Nächte in extremer Höhe verbringen zu müssen. Die meide ich bewusst.

Haben Sie jemals Xenon zur Höhenanpassung oder für dein Training verwendet?

Nein, ich würde es auch niemals tun. Es handelt sich dabei um eine von der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) verbotene Substanz. Als professioneller Athlet halte ich mich strikt an die WADA-Richtlinien – ganz egal, ob ich an einem offiziellen Wettkampf teilnehme oder an einem privaten Projekt arbeite.

Was halten Sie grundsätzlich vom Einsatz von Xenon im Höhenbergsteigen?

Ehrlich gesagt finde ich das Ganze ein bisschen albern. Die eigentliche Geschichte dreht sich nicht um Xenon, sondern um Sauerstoff. Die Bergsteiger, die im Frühjahr extrem schnelle Aufstiege auf den Everest gemacht haben, nutzten extrem hohe Sauerstoff-Durchflussraten – vom Basecamp bis zum Gipfel und zurück. Die Xenon-Geschichte war ein sehr effektiver PR-Trick, aber inhaltlich ein Bluff. Wir wissen seit mindestens 50 Jahren über Xenon Bescheid.

Wann planen Sie Ihren Gipfelversuch?

Unser ursprünglicher Plan war es, um den 1. Oktober den Gipfelversuch zu starten. Nun planen wir einen Versuch wohl noch im September, aktuell am 24.9. Das Route-Fixing-Team hat großartige Arbeit geleistet.

Der Everest ist die ultimative Herausforderung, nicht nur als Berg, sondern auch als Symbol.

Und wenn Sie dann tatsächlich auf dem Gipfel stehen sollten, vielleicht sogar nach einem Aufstieg in Rekordzeit: Was würde das für Sie bedeuten?

Es wäre ein riesiger Meilenstein. Ich sehe den Everest als logische Fortsetzung meines Weges. Alles, was ich sportlich gemacht habe, hat sich Schritt für Schritt in diese Richtung entwickelt. Schon als 17-jähriger Läufer liebte ich den Prozess, hart zu arbeiten, mich zu verbessern und Fortschritte zu sehen.

Der Everest ist die ultimative Herausforderung, nicht nur als Berg, sondern auch als Symbol. Wenn ich das schaffen würde, wäre es für mich die Bestätigung, dass sich die jahrelange Arbeit gelohnt hat.